21. Anamnese – Was damals war, ist heute

Einführung

 

Vergegenwärtigung ist mehr als Erinnerung. (A 1)

Die Eucharistiefeier ist Gegenwärtigsetzung von Tod und Auferstehung Jesu. Vergegenwärtigung ist mehr als Erinnerung. Das gilt schon für den rein natürlichen Bereich:

„Jeder weiß, dass Vergangenes ganz präsent sein kann: Durch einen Duft kann ein schon vergessen geglaubtes Ereignis wieder „vor Augen“ stehen. Eine Stimme, ein Traum, irgendwelche Bilder können Ereignisse so vergegenwärtigen, dass sich bei uns die gleichen Gefühle einstellen, verbunden mit den körperlichen Reaktionen (Schweißausbruch, Pulsfrequenz, Lachen oder Weinen).

Wenn Menschen über 60 Jahre nach dem Krieg von tief gehenden Kriegsereignissen berichten, kann man noch heute Reaktionen wahrnehmen, die zeigen, dass ihnen in diesem Augenblick diese Erfahrung gegenwärtig ist.

Traumatisierte Menschen durchleben in manchen Therapien ihr Trauma immer wieder und lernen in der Vergegenwärtigung des Erlebnisses, Reaktionen einzuüben, die eine Bewältigung ermöglichen.

Vergegenwärtigung ist also viel mehr als Erinnerung an ein längst vergangenes Ereignis: Vergegenwärtigung holt Vergangenheit in die Gegenwart, macht sie präsent.

Gewiss ist dies lediglich eine psychologische Hinführung, ein Aufweis, dass Vergangenes im Alltag Gegenwart werden kann. Damit ist nicht eine Gleichstellung mit der eucharistischen Vergegenwärtigung in der Heiligen Messe gemeint.

 

Die eucharistische Vergegenwärtigung

„Die Vergegenwärtigung der Abendmahls-Situation geschieht nicht durch menschliche Einbildung oder als menschliches Willensprodukt, gleichsam als Reise in die Vergangenheit, sie geschieht im Auftrag Christi mit dem Priester als Repräsentant Christi durch den Heiligen Geist.“ (Q 1, S.135) Dabei ist der Priester nicht der Stellvertreter deines Abwesenden, sondern Jesus Christus ist gegenwärtig und handelt durch ihn.

Wenn wir danken und Gott preisen für das, was Jesus Christus vor 2000 Jahren für uns getan hat, für sein gesamtes Heilswirken auf dieser Erde (Menschwerdung, Predigt, Heilungen, Kreuz und Auferstehung), dann ist der Gekreuzigte und Auferstandene wirklich unter uns.

Bei der Gegenwärtigsetzung wird die Zeit außer Kraft gesetzt. Das Gabenbereitungs-Lied GL 918 drückt es so aus:

Erhebet das Gemüt, begreift, was nun geschieht: Der Tod des Herrn sich unter uns vollzieht.

Dennoch ist die Eucharistiefeier keine Totenfeier, sondern Dank für die Errettung aus dem Tod.

Die Vergegenwärtigung von Tod und Auferstehung Jesu ist ein großes Glaubensgeheimnis, und so sagt es der Priester nach der Wandlung: Geheimnis des Glaubens.

Erwachsenen kann vielleicht das Ewigkeitsmodell von Nikolaus von Kues eine Hilfe zum Verständnis sein. Für Kinder ist es zu schwierig.

Bei diesem Modell steht für die Zeit ein Kreisbogen, für die Ewigkeit der Mittelpunkt des Kreises. Der Mittelpunkt hat keine Ausdehnung, d.h. die Ewigkeit ist nicht unendlich lange Zeit, sondern Zeitlosigkeit.

Vom Mittelpunkt aus sind alle Punkte auf dem Kreisbogen gleich weit entfernt, d.h. vom Standpunkt der Ewigkeit aus ist jeder Zeitpunkt der menschlichen Geschichte gleichzeitig, es gibt kein Vor und Danach.

Der Auferstandene lebt in der Ewigkeit, im Bild also im Mittelpunkt. So kann er allen Zeiten der Geschichte den Menschen jeder Generation gleichzeitig und nahe sein.

Welche existentielle Bedeutung hat diese Lehre für uns?

Ich sehe zwei Aspekte:

  1. Das aus Tod und Auferstehung entspringende Heil will Christus allen Menschen, d.h. den Menschen aller Generationen und Zeiten, zuwenden, deshalb setzt er es für jede Generation neu gegenwärtig.
  2. Wenn wir dieses Angebot Jesu annehmen, hat es für unser Leben verwandelnde Kraft.

 

Gründe für die Wahl der Emmaus-Geschichte

  1. Damals
    1. Was auf dem Weg nach Emmaus geschieht, bevor sich Jesus zu den beiden Jüngern gesellt, ist ErinnerungSie sprachen über all das, was sich ereignet hatte. (Lk 24,14)
      Die Ereignisse sind vergangen, sie können nicht mehr zurückgeholt werden. Jesus ist tot, die Bewegung, die er ins Leben gerufen hat, ist gescheitert, vergangen ist vergangen. Es bleibt nur die Erinnerung und die bittere Erkenntnis, dass man dem Falschen gefolgt ist.
    2. Was auf dem Weg nach Emmaus geschieht, nachdem sich Jesus zu den beiden Jüngern gesellt hat, ist bereits Vergegenwärtigung. Sie geschieht zunächst in den Worten Jesu, der den Jüngern den Sinn der Schrift erschließt. Diese Phase entspricht dem Evangelium im Wortgottesdienst. Denn der zu ihnen spricht und ihnen die Schrift auslegt, lebt, es ist der Gekreuzigte und Auferstandene selbst.
    3. Was dann in Emmaus geschieht, ist Vergegenwärtigung im Sakrament:
      Christus, der sich allen Menschen am Kreuz geschenkt hat, wandelt das Brot und schenkt sich im Brot speziell diesen beiden Jüngern. Vielleicht darf man es so formulieren:
      In Emmaus hat Jesus Christus mit den zwei Jüngern die erste Hl. Messe nach seiner Auferstehung gefeiert.
  2. Heute
    1. In jeder Eucharistiefeier geschieht nun genau das, was damals in Emmaus geschehen ist:
      Christus spricht zunächst zu uns durch das Evangelium.
      Dann wandelt er (durch den Priester) das Brot in seinen Leib, um sich uns zu schenken. JETZT. (Q 3).
      So tut er es seit 2000 Jahren immer neu, für die Menschen aller Generationen, für sie persönlich,
    2. Der Unterschied zwischen Emmaus und der Hl. Messe heute ist, dass Christi Gegenwart sich dem menschlichen Auge entzieht und der Priester in seinem Auftrag handelt (in persona Christi), aber nicht, wie bereits gesagt, als Vertreter eines Abwesenden.
    3. Aber selbst hier gibt es eine gewisse Parallele, denn Jesus entzieht sich auch in Emmaus den Blicken der Jünger, nachdem er das Brot für sie gebrochen hat. Mit dem leiblichen Auge sehen sie ihn nicht mehr – wohl aber mit den Augen des Glaubens. Und das ist genau unsere Situation.

Ein weiterer Grund für die Wahl der Emmaus-Geschichte ist die Hoffnung, dass diese anschauliche Erzählung unserem Kind im Gedächtnis bleibt und während der Hl. Messe vor Augen steht.

Den originalen Text der Emmaus-Geschichte (Lk 24,13-35) (Anlage 21.b) habe ich am Anfang erweitert durch einen erklärenden Zusatz.

Bitte, beachten Sie Anmerkung (A 2)!

Wir gehen in drei Schritten vor:

  1. Erinnerungen können so stark sein, dass die Vergangenheit gegenwärtig wird.
  2. In Emmaus wurde für die Jünger Tod und Auferstehung Christi Gegenwart und verwandelte sie.
  3. In jeder Heiligen Messe geschieht heute, was in Emmaus damals geschah.

 

Anmerkungen

(A 1) Idee und Beispiele in diesem ersten Teil sind mit freundlicher Erlaubnis des Verfassers der Kommunionmappe von Ulrich Günzel entnommen. (Q 1)

(A 2) Falls unser Kind die Erscheinung Jesu mit dem Stichwort „Zombie“ verbindet, sollten wir zwei Dinge klarstellen:

  1. Die Zombie-Vorstellung kommt aus der Voodoo-Religion.
  2. Was Filme aus dem Zombie-Phänomen gemacht haben, ist marktschreierische Sensationsmache.
  3. Richtig ist, dass Voodoo offenbar Gifte kennt, die scheintod machen können. Die Priester demonstrieren ihre Macht, indem sie solche Menschen ins Leben zurückrufen.
  4. Der Unterschied zwischen dem auferstandenen Jesus und einem Zombie ist klar und eindeutig:
    1. Jesus ist nicht in dieses Leben zurückgekehrt, sondern in das Reich der Himmel. Er hat zu Pilatus gesagt: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt.“
    2. Das Leben eines von Voodoo-Priestern ins Leben Zurückgerufenen ist nicht mehr lebenswert, es ist nur ein halbes Leben. Christus dagegen verfügt über die Fülle des Lebens und will uns an dieser Fülle teilhaben lassen.

(Näheres zu Voodoo und Zombie siehe: Google:  – Was hat es auf sich mit den Zombies?

In dem Artikel wird auch hingewiesen auf das Museum „Soul of Africa“, in dem der Ethnologe Henning Christoph die Voodoo-Religion dokumentiert.)

 

Quellen

(Q 1) Ulrich Günzel, Ihr seid meine Freunde, Patmos 2011, Handreichung 978-3-8436-0107-8

(Q 3) vgl. Michael Kunzler I, S. 82