Überlegungen zur Bildinterpretation

Anlage 21.c für die Eltern

 

1. Der Weg nach Emmaus

Um die Ehre, Emmaus zu sein, streiten sich vor allem zwei Orte, Amwas und El Kubebe. Archäologisch am wahrscheinlichsten ist die Identifikation mit dem heutigen Amwas, in römischer Zeit Nikopolis, das etwa 30 km westlich von Jerusalem im judäischen Bergland liegt. (A 1)

Das vorliegende Bild suggeriert eine Lage in der Wüste und ist somit geographisch nicht korrekt, denn die Wüste Juda liegt östlich von Jerusalem und das westlich gelegene judäische Bergland ist nicht vegetationslos. Dennoch scheint mir das Bild von allen, die ich finden konnte, am besten geeignet. Denn durch die karge Landschaft konzentriert sich der Blick sehr bald auf die kleine Personengruppe, die sich gerade aus einer Art Schlucht ins Freie bewegt, vom Dunkel ins Licht, das durch die Sonnenstrahlen in der Ferne verstärkt wird.

Christus ist durch sein weißes Gewand leicht zu erkennen. Dass die Gruppe vom Rücken gezeigt wird, hat den Vorteil, dass man nicht durch Gesichter abgelenkt wird, die insbesondere bei realistischen Christusdarstellungen oft genug peinlich ausfallen. So konzentriert sich der Blick allein auf die Gesprächssituation, man gewinnt bei längerem Betrachten den Eindruck, dass die zwei Begleiter dem Fremden in der Mitte konzentriert zuhören. Wie gerne würde man wissen, was Jesus ihnen im Einzelnen gesagt hat!

 

2. Das Mahl in Emmaus

Im Gegensatz zum Naturalismus des ersten Bildes haben wir es hier mit der streng stilisierten Formensprache der Ikone zu tun. 

Die Überschrift „kai ep-égnosan autón“ „und sie erkannten ihn“ bezeichnet den Augenblick, den der Maler darstellen wollte.

Die griechischen Buchstaben IC / XC sind zu lesen als I-S / Ch-S und wären eigentlich nicht nötig, um Jesus Christus zu bezeichnen. Er ist ja sofort erkennbar:

  • durch die Position in der Mitte
  • durch die Größe der Gestalt, die in symbolischer Weise seine Bedeutung hervorhebt
  • durch die königliche Haltung
  • durch die größere Gloriole mit den Buchstaben Omikron (kurzes o), Omega (langes o) und N. Daraus ergibt sich: Ho Oon (A 2) = Der Seiende, eine Anspielung auf den alttestamentlichen Gottesnamen Jahwe = Ich bin der Seiende.
  • durch die Farbe seines Gewandes: Es deutet auf die Verklärung hin.
  • durch das Podest, auf dem seine Füße ruhen
  • durch die Tischbeine in Form eines Omega

Christus hat soeben das Brot gebrochen, er schaut den Betrachter so unmittelbar an, dass man sich seinem Blick nicht entziehen kann, so als wolle er sagen: Glaubst auch Du an mich?

Die Gesichter der beiden Jünger sind halb dem Betrachter zugewandt, aber ihre Augen gehen zu Christus. Man gewinnt den Eindruck, dass sie es nicht wagen, ihn direkt anzusehen.

Während die Hand des rechten Jüngers auf Christus zeigt, deutet die Handhaltung des linken Jüngers - der (nicht sichtbare) Daumen ist mit dem Ringfinger und Kleinem Finger zusammengefügt -   das Geheimnis der Dreifaltigkeit an, während der Zeige- und Mittelfinger ein Hinweis auf die menschliche und göttliche Natur Jesu ist, die dem Jünger soeben bewusst geworden ist.

Die drei Kreuze auf dem Berg im Hintergrund weisen darauf hin, dass es der Gekreuzigte ist, der mit den Jüngern Mahl hält.

Was aber bedeuten Turm und Stadtmauer?

Emmaus war ein Dorf, und ein Dorf besitzt keine Stadtmauer. So muss man wohl annehmen, dass Turm und Stadtmauer die Stadt Jerusalem meinen, aus der die Jünger gekommen sind. Dass Jerusalem und Emmaus geographisch 30 Stadien auseinanderliegen, ist für eine Ikone unerheblich, da es bei ihr nicht um realistische Ortsangaben, sondern um Sinnangaben geht. Auch die Kreuze von Golgotha wären ja von Emmaus realistischerweise nicht zu sehen.

Darf man noch einen Schritt weiter gehen?

Zwei Beobachtungen könnten dafür sprechen, dass mit dem irdischen auch das himmlische Jerusalem gemeint ist:

  • Eine Kennerin der griechischen Ikonen sagte mir, dass (das irdische) Jerusalem auf griechischen Ikonen in der Regel mit spitzen Giebeln dargestellt wird, nicht mit einer Art Zwiebelturm.
  • Auffällig ist auch die Tatsache, dass die Mahlszene nicht in einem geschlossenen Raum stattfindet, wie sonst auf Emmaus-Darstellungen, z.B. von Caravaggio, sondern ins Freie verlegt ist. Offenbar lag dem Maler viel daran, Golgotha und Jerusalem in die Darstellung einzubeziehen: Golgotha als Ort des Leidens und Todes, das himmlische Jerusalem als Chiffre für den „Ort“, dem der Auferstandene nun zugehört, während der Zutritt den Jüngern noch verwehrt ist?

Mit der Eucharistie schenkt Jesus ihnen einen Vorgeschmack der ewigen Seligkeit.

Ist das überinterpretiert?

Es ist eine gewagte Deutung. Falls Sie über eine schlüssigere verfügen, bin ich für einen Hinweis dankbar.

 

Anmerkungen

(A 1) So bezeugen es auch Eusebius und der hl. Hieronymus.

(A 2) Das „H“ ist im Griechischen keine eigener Buchstabe, sondern wird durch einen Akzent augedeutet.